A. Morrison: Russian Conquest of Central Asia

Cover
Titel
The Russian Conquest of Central Asia. A Study in Imperial Expansion, 1814–1914


Autor(en)
Morrison, Alexander
Erschienen
Anzahl Seiten
XXV, 613 S.
Preis
£ 75.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gero Fedtke, Historisches Institut, Friedrich-Schiller-Universität Jena

Im Laufe des 19. Jahrhunderts dehnte das Russische Reich sein Herrschaftsgebiet weit nach Zentralasien aus. Alexander Morrison erzählt in seinem Buch die Geschichte dieser Expansion – beginnend mit der „napoleonischen Generation“ von Akteuren, die ihre erste Phase prägte, bis zu der Festlegung der russischen Südgrenze zu Beginn des 20. Jahrhunderts, die bis zu ihrer Auflösung auch die Südgrenze der Sowjetunion bleiben sollte. Eine solche explizite Untersuchung der Expansion über diesen Zeitraum liegt bislang nicht vor. Morrisons Hauptanliegen ist es, die vorherrschenden Metanarrative zu hinterfragen und zu widerlegen. Diese Narrative, wie das „Great Game“1, die Theorie kolonialwirtschaftlicher Interessen als Hauptmotor der Expansion2, oder die Idee einer russischen Zivilisierungsmission3, sind Erklärungs- und Sinngebungsversuche, die Morrison zufolge mehr verdecken als sie erklären.4 Sie sind damit Paradebeispiele für das, was bereits vor rund 100 Jahren Theodor Lessing als sacrificatio post eventum und logificatio post festum bezeichnet hat. Lessing beklagte, dass derartige Narrative lediglich mit „ungeheuer verengter Einstellung das für gewisse menschliche Interessengruppen Selektiv-Wirksame“ berücksichtigten, aber blind seien für alle anderen Aspekte wie beispielsweise „die Leiden der Kühe beim Brande Löwens.“5 Genauso ist auch Morrison bestrebt, keine neue Meistererzählung zu schaffen. Vielmehr bietet er eine Serie von Fallstudien der wichtigsten Feldzüge, in denen er wesentliche Faktoren und Dynamiken analysiert und dabei auch Auge und Herz für die Bedeutung und die Leiden der beteiligten Tiere hat. Im Falle der russischen Eroberungszüge waren dies die Kamele, zumeist der Art Trampeltier, für die sich bislang noch keine wissenschaftliche Untersuchung interessiert hat, obwohl sie für viele Feldzüge eine unverzichtbare Rolle spielten und ihre Berücksichtigung sehr viel zum Verständnis von Dynamiken und Entscheidungsprozessen beitragen kann.

So kann Morrison die prominente These, die Eroberung sei vor allem von Generälen vor Ort vorangetrieben worden, die eigenmächtig gegen den Willen der Zentralgewalt zu ihrem eigenen Ruhm Festungen und Städte erobert hätten, zu Recht ins Reich der Legenden verweisen: Dies gestattete bereits die meist sehr aufwendige Logistik nicht, die große Geldressourcen und ausreichend Zeit voraussetzte, um die erforderlichen Mengen an Proviant, Ausrüstung, Transportkamelen und deren Futter zusammen zu bekommen. Die Eroberungen der Jahre 1866 bis 1868 im Konflikt mit Buchara sind hier eine Ausnahme. Vielmehr zeigt Morrison überzeugend auf, wie ausführlich die Gouverneure von Westsibirien und Orenburg, Kriegsminister, Außenminister und auch der Zar persönlich das Vorgehen in Zentralasien diskutierten und Entscheidungen fällten. Auf dieser Ebene war zwar das Verhältnis zum britischen Empire von Bedeutung, allerdings nicht in der Dimension des „Great Game“, einer vermeintlich realen Bedrohung russischer Territorien oder eines russischen Ausgreifens nach Indien. Stattdessen ging es vielmehr um das Prestige Russlands als gleichwertiger Großmacht, die sich nicht von „rückständigen Asiaten“ vorführen lassen wollte. Im Kern drehten sich die Debatten in den Regierungskreisen aber vorrangig um Fragen der militärischen Sicherheit, Logistik, perzipierter oder tatsächlicher Bedrohungen durch zentralasiatische Herrscher. Sie produzierten oft uneindeutige Anweisungen, die Kommandeure vor Ort im Zweifelsfall aggressiv auslegen konnten. Damit steuerte die Zentralgewalt zwar nicht das exakte Vorgehen vor Ort, fällte aber grundlegende Entscheidungen und behielt im Ganzen die Kontrolle.

Morrison beginnt seine Untersuchungen mit der Ausgangssituation in der nachnapoleonischen Ära, die eine Veränderung der außenpolitischen Orientierung Russlands und eine Abkehr von lang eingeübten Praktiken an der Steppengrenze mit sich brachte. Es folgen insgesamt neun Fallstudien nach geographischer Gliederung: die erste gescheiterte Attacke auf das Khanat Chiva im Winter 1839/1840, die Expansion in die kasachische Steppe, in das Gebiet Semireč‘e und schließlich die Eroberung Taschkents. Der Unterwerfung Bucharas, Chivas und der Annexion Kokands sind eigene Kapitel gewidmet, ebenso der Eroberung Transkaspiens und schließlich der finalen Etappe der Expansion um die Jahrhundertwende in Badachschan. Morrison macht deutlich, dass sich diese lange und wechselvolle Geschichte nicht in ein Narrativ pressen lässt, sie wohl aber immer wiederkehrende Aspekte in jeweils unterschiedlichen Konstellationen aufweist: „conflicting ideas of sovereignty between Russian and Central Asian elites; the importance of imperial prestige to the Russians; the role of local agency and circumstances in precipitating events; the surprisingly inconsistent use of violence; the role of personality and relations between individuals; the importance of environmental factors; and, of course, camels” (S. 50). Er identifiziert unter diesen Aspekten Faktoren, die eine konstante Rolle spielten, alleine aber kein neues Metanarrativ begründen können: das Prestigedenken der russischen politischen Elite, das von einem Überlegenheitsgefühl gegenüber zentralasiatischen Akteuren geprägt war und es (mit einer Ausnahme) nicht zuließ, einmal erobertes Territorium wieder preiszugeben. Morrison widerlegt überzeugend Auffassungen, ein besonderes eurasisches Selbstverständnis Russlands habe ein solches Überlegenheitsdenken verhindert. Den russischen Eroberern war und blieb Zentralasien fremd. Konstant blieb auch der „Russian official mind“, das aus Vorurteilen, Annahmen, Ambitionen und dem „mentalen Universum“ der herrschenden Klasse geschnürte „Bündel“, zu dem dieses Überlegenheitsgefühl gehörte (S. 24).

Eine weitere Konstante war die Suche nach einer stabilen, „natürlichen“ Grenze für das russische Staatsgebiet. Zum einen erwiesen sich solche vermeintlichen Grenzen nach ihrem Erreichen als unsicher, was stets eine weitere Expansion nach sich zog. Zum anderen kollidierte das zentralasiatische Prinzip einer Herrschaft über – oft nomadisierende – Menschen mit dem europäisch geprägten Prinzip einer Herrschaft über klar definierte Territorien. Dies führte immer wieder zu Konflikten, in deren Verlauf – wenig überraschend – die russische Seite mit zweierlei Maß operierte: so zogen „Überfälle räuberischer Banden“ eine „Strafexpedition“ russischer Truppen nach sich, obwohl sich das eine vom anderen nicht wesentlich unterschied. Anders als bereits zeitgenössische russische Akteure intern immer wieder behaupteten, die Zentralasiaten verstünden nur Gewalt, suchten die Khane oft das Gespräch mit dem Zaren, um Konflikte auf dem Verhandlungsweg zu lösen. Sie scheiterten aber an der mangelnden russischen Gesprächsbereitschaft auf Augenhöhe.

Diese Geschichte der russischen Expansion fokussiert – nomen est omen – auf die russischen Akteure, ihr Selbstverständnis, ihre Wahrnehmungen, Diskussionen, Entscheidungen und Handlungen. Morrison ist sich dessen bewusst; er bemüht sich, die andere Seite nicht zu vernachlässigen und bezieht auch zentralasiatische Quellen mit ein. Der Rezensent weiß um die hohen Hürden, die sich keineswegs nur auf die sprachlichen Herausforderungen und den Grad der Erschließung beschränken, die auch Morrison deutlich macht. Dennoch bleibt diese Seite der Geschichte letztlich auf der Ebene des Anekdotischen. Die Leser:innen erfahren zwar, was zentralasiatische Chronisten über die besprochenen Vorgänge zu berichten haben, lernen in den meisten Fällen aber mangels Auskunft über die Autoren und ihre Schreibkontexte wenig mehr, als dass sich die zentralasiatischen von den russischen Perspektiven unterscheiden. Das Buch macht damit zugleich deutlich, wie viele Aspekte dieser Expansionsgeschichte noch bearbeitet werden müssen, ehe sie sich auf vergleichbarem Niveau auch aus zentralasiatischer Perspektive erzählen ließe.

Auch aus primär russischer Perspektive ist die Geschichte der Eroberung, wie Morrison in seinem Vorwort anmerkt, „an enormously complicated story“, die er „as completely as I can” erzählen möchte (S. 51). Dies ist ihm gut gelungen. Mitunter verlieren sich seine Schilderungen in Details; umgekehrt werden die mit den Kontexten der jeweiligen Fallstudien nicht vertrauten Leser:innen sehr gefordert. Aber die klare Sprache, das gute Erzählen und die überzeugende Argumentation machen diese Nachteile mehr als wett. Wer sich für die russische Expansion nach Zentralasien interessiert, greife zu diesem Buch.

Anmerkungen:
1 Siehe jüngst z. B. Evgeny Sergeev, The Great Game 1856–1907, Washington 2013.
2 Dieser Erklärungsansatz geht wesentlich auf N. A. Khalfin zurück, u. a. Prisoedinenie Srednej Azii k Rossii, Moskau 1965, und hält sich bis heute. Siehe exemplarisch Sven Beckert, Empire of Cotton. A New History of Global Capitalism, London 2014, S. 345–347.
3 Sie entfaltete ihre Bedeutung allerdings bei der Gestaltung der russischen Herrschaft, die nicht Morrisons Thema ist. Siehe dazu die hervorragende Studie von Ulrich Hofmeister, Die Bürde des Weißen Zaren. Russische Vorstellungen einer imperialen Zivilisierungsmission in Zentralasien, Stuttgart 2019.
4 Julia Obertreis hat jüngst argumentiert, dass „the importance of cotton as a stimulus for conquest should be significantly downgraded”. Sie verweist ihrerseits auf die Faktoren „Great Game“ sowie Zivilisierungsmission; Julia Obertreis, Imperial Desert Dreams. Cotton Growing and Irrigation in Central Asia, S. 51–54. Für eine multikausale Analyse der Gründe der Eroberung hat sich bereits Andreas Kappeler ausgesprochen, auf den Morrison in diesem Zusammenhang nicht verweist. Andreas Kappeler, Rußland als Vielvölkerreich. Entstehung, Geschichte, Zerfall, München 2001, S. 156–165.
5 Theodor Lessing, Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen, München 1919, S. 18.

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